Montag, 23. November 2020

VOM STERBEN MIT COVID-19 - von Christina Schumacher

Der Tod gehört zum Leben dazu. Als Pflegefachfrau bin ich dazu ausgebildet, Menschen in allen Phasen ihres Lebens zu begleiten. Auch in ihrem Sterben. Sterbebegleitung ist ein Teil meines Berufes. Sterben ist keine misslungene Medizin. Der Mensch stirbt irgendwann und er darf das. Auch im Spital. Auch auf der Intensivstation. Bei einer aussichtslosen Prognose machen wir einen Therapieabbruch. Alle lebenserhaltenden Massnahmen werden eingestellt und der Patient, die Patientin darf gehen. Als Expertin Intensivpflege bin ich da für meinen Patienten. Auch in seinem Sterben und unmittelbar danach. Niemand soll unter Schmerzen sterben. Niemand soll leiden in diesen letzten Stunden und Minuten.

Fast mehr noch als für die sterbende Person bin ich da für ihre Angehörigen. Die einsamen Begleiter am Bett. Die, die ich oft schon seit Tagen oder Wochen kenne. Die, deren Bangen, Hoffen, Warten und Trauern ich miterlebt habe. Ich bin da, ich halte Hände, höre zu, trockne Tränen, fange Wut auf, helfe Ängste durchzustehen. Wem das nun zu sehr nach barmherziger Schwester tönt: Nein, das ist es nicht. Das ist professionelle Pflege. Begleitung von Menschen in Krisensituationen. Dazu braucht es ganz viel Fachwissen, Sozialkompetenz und nicht zuletzt auch die Fähigkeit mit dieser eigenen psychischen Belastung umzugehen. Immer wieder als Mensch da zu sein, emotional anwesend, ohne dabei abzustumpfen und ohne daran zu zerbrechen. Das ist eine der grössten Herausforderungen in meinem Beruf.

So ist das in «normalen» Zeiten. Aber die Zeiten sind nicht normal. Sterben mit COVID-19 ist anders. Sterben mit COVID-19 ist ein einsames Sterben. Die Patienten sind isoliert. Besuch ist nur sehr begrenzt erlaubt. Bei beatmeten Patienten ist es eine Stunde täglich. Körperkontakt nur mit Handschuhen. Keine Umarmungen, keine Küsse. Die restlichen 23 Stunden des Tages sind die Patienten alleine mit uns vermummten Gestalten vom Behandlungsteam. Die Schutzkleidung ist unabdingbar und wir geben alles, genauso präsent zu sein. Aber die Nähe ist nicht dasselbe. Isolierte Patienten sind die einsamsten Menschen in einem Spital.

Gestern haben wir bei einem älteren Patienten mit COVID-19 die Therapie eingestellt. Ich stand zusammen mit seiner Ehefrau am Bett, als er starb. Die beiden waren über fünfzig Jahre verheiratet. So viele Jahre zu zweit und nun stand sie alleine da, am Bett ihres toten Mannes. So verloren. So verlassen. «Und ich darf ihm noch nicht einmal ein letztes Müntschi geben», flüsterte sie. Ich spürte, wie in diesem Augenblick etwas in mir zerbrach, das all die Jahre als Pflegefachfrau gehalten hatte.

(Anmerkung: Die Verfasserin ist nicht die «Ich»-Person in diesem Text. Es sind geliehene Worte für die Pflegenden auf den Intensivstationen, die in diesem neuen Sterben kaum mehr Worte haben. Ganz besonders ist dieser Text für meine Freundin K. Sie stand mit jener Ehefrau am Bett.)

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