Dienstag, 1. Dezember 2020

Kein Skandal? Kein Interesse! - von Christina Schumacher

Der Alltag an der Pflegebasis ist gerade nicht sehr schön. Er ist auch nicht härzig oder befriedigend, vor allem aber ist er nicht skandalös genug. Nicht skandalös genug, dass es die Öffentlichkeit und damit auch die Medien, interessieren würde. Schön wären solche Bilder, wie wir sie im Frühling aus Italien gesehen haben. Pflegende mit Druckstellen im Gesicht vom tagelangen Tragen der FFP2 Masken, mit dicken Augenringen, strähnig-fettigem Haar, traurigem Blick. Auch die Fotos jener amerikanischen Kollegin, ihr Bildvergleich „Wie es begann“ und „Wie es läuft“, stösst auf grosses Interesse. Beim Berufsverband der Pflege SBK gingen bereits zig Anfragen ein, ob wir Personen „für solche Fotos“ vermitteln könnten. Können wir nicht. Nur schon aus Gründen der Pietät.

Oder die Geschichte von Sophia. Der portugiesischen Pflegefachfrau ist in Vila Nova de Gaia eine Wandmalerei gewidmet. Darauf schlägt sie mit einem Baseballschläger auf das Corona Virus ein. Nachdem sie selbst mit einem schweren Verlauf an COVID-19 erkrankt war, arbeitet Sophia nun wieder 18 Stunden Schichten für neun Euro die Stunde. Da können wir natürlich nicht mithalten. Und darüber sind wir froh

In Grossbritannien sind bisher bereits über hundert medizinische Fachpersonen an einer COVID-19 Infektion gestorben. Auch da können wir „leider“ nicht mithalten. Auch darüber sind wir unendlich froh.

Das Interessante sind die Skandale, die Katastrophen, das Schaurige. Das, was einem Angst macht. Wir haben vielleicht keine Druckstellen im Gesicht und tatsächlich schaffte es die reiche Schweiz mittlerweile auch an den allermeisten Orten genügend Schutzmaterial zur Verfügung zu haben für das medizinische Fachpersonal. Das Arbeitsgesetz ist – noch – nicht wieder ausser Kraft gesetzt in den Spitälern und der Reallohn einer Pflegenden ist in der Schweiz höher als in Portugal. (Gemessen am durchschnittlichen Einkommen im Land allerdings nicht.) 

Nichts desto trotz geschehen aktuell in den Gesundheitsinstitutionen der Schweiz – und längst nicht etwa nur auf den Intensivstationen – Tag für Tag stille und einsame Tragödien. Ausgelöst durch dieses Virus und durch den Fachkräftemangel in der Pflege. Die meisten dieser Tragödien hätten verhindert werden können. Wenn man früher und gründlicher auf das Virus in der zweiten Welle reagiert hätte. Und wenn man auf den Pflegenotstand überhaupt reagiert hätte. Diese Tatsache IST ein Skandal, aber halt keiner, der schaurig genug wäre. 


P.S.: Wir sind traurig. Sr. Liliane Juchli, die "Grande Dame" der Pflege ist gestern an einer Infektion mit dem Corona Virus verstorben. Trauer hat mitunter eine lähmende Wirkung. Aber Sr. Liliane hätte genau das hier von uns erwartet: Dass wir weiter machen. Im Sinne ihres Vermächtnisses - und darüber hinaus. 

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